Nr. 24 vom 19. Juni 1999

 

Bauernblatt für Schleswig-Holstein und Hamburg

Autor Dr. agr. Hans Peter Stamp

Logisch?

Der Hamburger Chemiker W. Sandermann erforschte in den fünfziger Jahren die Struktur des später als "Seveso-Dioxin" bekannt gewordenen Tetrachlordibenzodioxin (TCDD). Er war es auch, der als erster bewusst mit der Gefährlichkeit dieses Stoffes buchstäblich am eigenen Leib konfrontiert wurde. Er hatte eine offene Kristallschale mit dem von ihm synthetisierten TCDD auf den Schreibtisch gestellt. Nach einigen Tagen beobachtete er starkes Kribbeln, Hautrötung am Kinn, Mitesser und Pusteln an den Wangen – die typischen Merkmale der Chlorakne, von der 20 Jahre später über 600 Kinder in Seveso befallen wurden. Bei Sandermann zeigten sich außerdem Mattigkeit, Schlaflosigkeit und Gedächtnisschwund. Über diese Geschichte gibt es eine seriöse Quelle, ein Buch des Toxikologen Prof. Dr. Otfried Strubelt (Medizinische Universität Lübeck), das 1996 im Spektrum-Verlag erschienen ist, "Gifte in Natur und Umwelt". Neben klaren Hinweisen zur Gefährlichkeit dieser "giftigsten synthetischen Substanz, die derzeit bekannt ist" finden wir bei Strubelt aber auch Kritik am Verhalten der Medien, denen er auch bezüglich TCDD "ausgeprägte Emotionalisierung und Personalisierung sowie unsachliche Übertreibungen" vorwirft.

Auch für TCDD gilt selbstverständlich die Regel von Paracelsus, wonach jeder Stoff solange ungiftig ist, bis die Dosis eine bestimmte Schwelle überschreitet. Bei dem "Ultragift" TCDD liegt die Schwelle nur niedriger als bei allen anderen synthetischen Stoffen. Die Toxikologen sprechen vom ADI-Wert (acceptable daily intake) und meinen damit die tägliche Menge, die auch bei lebenslanger Aufnahme die Gesundheit des Menschen nicht schädigt. Aus Tierversuchen weiß man, dass die "Dosis ohne Wirkung" bei einem ng/kg Körpergewicht liegt. Ein ng (Nanogramm) ist das Milliardstel eines Gramms, eine unvorstellbar kleine Menge, aber es geht schließlich auch um das gefährlichste aller Gifte, 10000 mal so giftig wie E 605. Nun ist es bei Toxikologen üblich, Ergebnisse aus Tierversuchen mit einem Sicherheitsfaktor 1000 auf Menschen zu übertragen. So kommt der viel diskutierte Wert von einem pg (Pikogramm/ 1/1000 Nanogramm) zustande. Dieser Wert besagt, dass ein Mensch von 75 kg Körpergewicht, der täglich 75 pg TCDD zu sich nimmt, mit tausendfacher Sicherheit davon ausgehen kann, dass ihm nichts passiert. Wenn z.B. das Untersuchungsamt in Münster in belgischem Futterfett in 15 Proben Werte von 0,35 bis 4,51 pg TCDD pro Gramm Fett gefunden hat, ist das also nicht besonders viel. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Werte zwischen 1 und 5 pg in Nahrungsfett als akzeptabel. Wenn es stimmt, dass in Belgien im Fett von Geflügel Werte von 250 bis 500 pg pro Gramm gefunden wurden, ist das etwas anderes. Auch wenn man sich sicherlich selbst mit diesen Hähnchen bei gelegentlichem Verzehr nichts antun kann, ist die Regel der Toxikologen, die auf lebenslang täglichen Verzehr abstellen, eine gute Regel. Und zum Schluss noch zwei Fakten aus Strubelts Buch: In Seveso waren die kurzfristigen Folgen, insbesondere die Chlorakne, nach wenigen Wochen verschwunden. Überhaupt, und das ist vielleicht die größte Überraschung in Strubelts Buch, gibt es bisher erst einen einzigen nachgewiesenen Todesfall aus unmittelbarer TCDD-Vergiftung, ein Chemiearbeiter in Ludwigshafen, der 1958 ums Leben kam. Es wurden aber in Seveso auch 37000 Einzelfälle mit 180000 Kontrollpersonen verglichen und auf Spätfolgen untersucht. Es gab einen Anstieg bei einigen Krebsarten, die allgemein selten vorkommen. Der Anstieg war deshalb nicht so hoch, dass die Krebsrate insgesamt signifikant erhöht war; den vielleicht eher wenigen zusätzlichen Toten durch TCDD, z.B. auf Grund von Krebs der Gallenblase, hat diese statistische Einschränkung jedoch nicht geholfen. Übrigens: Auch beim Rauchen entstehen Dioxine. Im Zigarettenrauch wurden Konzentrationen von 1,8 ng oder 1800 pg/m 3 gemessen, das 18fache dessen, was man in den Abgasen von Müllverbrennungsanlagen zulässt.